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Festreden von Denis Scheck und Prof. Stefanos Fasoulas

von Waffenschmidt

Festrede von Prof. Dr.-Ing. Stefanos Fasoulas

Prof. Dr.-Ing. Stefanos Fasoulas beim Festakt

Sehr geehrte Frau König, sehr geehrte Frau Engelhardt,
sehr geehrte Vertreter des Regierungspräsidiums, der Stadt Stuttgart, Freunde des GDG,
liebe Schülerinnen und Schüler des GDG, ich bin ja geneigt zu sagen, liebe Mitschüler, meine Damen und Herren,

Ich hab’s befürchtet und jetzt tritt es auch tatsächlich ein: Ich bin nervös und habe Lampenfieber, wie bei meinem ersten Referat in der Schule vor zig Jahren. Sie sehen es mir bitte nach - Obwohl daran gewöhnt, vor hunderten Studierenden zu sprechen, ist es doch etwas anderes vor seinen ehemaligen Lehrern zu stehen.

Ich begrüße Sie ebenfalls zur heutigen Festveranstaltung und freue mich sehr, dass ich hier als ein Festredner auftreten darf. Als Frau König mich bat, kam bei mir sofort die Frage auf: Hat sie eigentlich vorher meine ehemaligen Klassenbücher und Zeugnisse gesichtet und mich dann gefragt oder wohl eher nicht? Ich war nämlich definitiv kein Musterschüler, im Gegensatz zum weiteren Festredner Denis Scheck, der zumindest in meiner Erinnerung zu dieser Kategorie gehörte.

Frau König bat mich, meine jetzige Tätigkeit mit meiner Schulkarriere in Verbindung zu setzen. Sie meinte, es sei bestimmt interessant zu erfahren, wie und warum das GDG mich prägte und ich außerdem nach dem GDG Raumfahrtingenieur werden wollte.

Die Antwort auf die erste Frage ist trivial: Wenn man 9 Jahre seines Lebens an einer Schule verbringt, bei mir also knapp ein Fünftel meines Lebens, und zumal in jungen Jahren, ist es definitiv eine prägende Erfahrung! Unter dem Begriff Schule verstehe ich dabei nicht nur das Gebäude, sondern auch die Lehrer, die Mitschüler und damit zusammenhängend das Klima,
die Atmosphäre während dieser Zeit. Ich habe sehr sehr viel mitgenommen: Wissen, Motivation, Einstellungen zum Leben, zu Mitmenschen und zu mir selbst. Im Nachhinein betrachtet war wohl ein Faktor für mich, mit so genanntem Migrationshintergrund, besonders wichtig: Die Toleranz und Akzeptanz sowie die Unterstützung durch Mitschüler und Lehrer.

Die Antwort auf die 2. Frage, warum Raumfahrtingenieur, ist auch ganz ganz einfach und naheliegend: Nachdem man in der Grundschule auf die Startrampe der Bildung gebracht wurde, bekommt man ja im Gymnasium wie bei einer dreistufigen Rakete in der Unter-, Mittel- und Oberstufe eine intensive Druckbetankung, beim G8 mittlerweile ja auch eine Hochdruckbetankung. Damit kann man eine sehr hohe effektive Austrittsgeschwindigkeit realisieren und somit, mit großem Schub, fast jede beliebige orbitale Geschwindigkeit erreichen. Man hat aber auch die Struktur, die dicke Haut erhalten, um den dabei auftretenden extremen Beschleunigungen zu widerstehen.

Während der Schulzeit fliegt oder schwebt man manchmal auch aus dem Klassenzimmer (zu diesem Stichpunkt später etwas mehr), macht bei diversen „abgespacten“ Schulpartys die ersten Erfahrungen mit flüssigem Treibstoff, die einen manchmal in höhere Sphären transportieren. Ja, wenn man nicht aufpasst auch nahe an ein schwarzes Loch. Irgendwann in dieser Zeit verspürt man auch die ersten Flugzeuge im Bauch, die einen praktisch in einen schwerelosen Zustand versetzen.

Meine Damen und Herren, es ist also ganz naheliegend Raumfahrt zu studieren, oder? Wer auf andere Lösungen kommt, hat wohl in der Schule nicht aufgepasst, nicht wahr?...

Das GDG hatte ich ausgewählt, weil es ein „mathematisch-naturwissenschaftlich“ orientiertes Gymnasium ist und meine Grundschullehrerin meinte, das entspräche definitiv mehr meinen Fähigkeiten. Als gebürtiger Grieche hatte ich Deutsch erst ab meinem 7. Lebensjahr in der Grundschule gelernt und ich kann mich noch gut an mein Zeugnis aus der 1. Schulklasse erinnern: Darin stand: „Stefanos hat noch große Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache, aber in Rechnen ist er schon sehr gut“. Weitere Gründe für das GDG waren die Freunde aus der Grundschule, aber auch die sehr nah gelegene griechische Grundschule, die ich parallel nachmittags besuchte.

Eine Konsequenz war damit, um 7 morgens aus dem Haus zu gehen und um 7 abends zurück zu kommen. Die Hausaufgaben mutierten so zu Bus- oder Straßenbahnaufgaben. Allerdings hatte ich mich dadurch bereits in jungen Jahren daran gewöhnt, rasch zu lernen oder besser gesagt zu verstehen. Mathe fiel mir dabei besonders leicht, da die paar wenigen logischen Grundregeln durch einfaches „Querlesen“ zu beherrschen waren, für lern- und zeitintensivere Fächer fehlte mir aber einfach die Zeit (und vielleicht dann auch die Lust).

Allerdings, motiviert durch meine erste Klassenlehrerin am GDG unter dem Motto „Du musst mehr Deutsch lernen, am besten durch Lesen“, hatte ich auch meine Liebe zu Büchern und Lesen entdeckt. Ich hatte mir nämlich dadurch vorgenommen, alle Bücher in der Stadtbücherei alphabetisch nach Autor durchzulesen. Dieses Unterfangen gab ich aber rasch bei „Ac“ völlig frustriert auf, da zwischenzeitlich immer wieder ausgeliehene Bücher zurückkamen. Die Liebe zum Lesen ist geblieben, allerdings seitdem nicht mehr nach System.

Die Neigung und Motivation zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern hat bei mir wohl mein Mathe-Lehrer in der 5. oder 6. Klasse initiiert. Neben den üblichen Hausaufgaben (die ich ja aus Zeitgründen kaum machte), gab es gelegentlich, ich glaube einmal im Monat, besonders knifflige „Sonderaufgaben“ für deren Lösung man dann mit einer Tafel Schokolade belohnt wurde. Obwohl auch damals kein Mangel an Süßigkeiten herrschte, war es für mich die beste Schokolade der Welt. Ich saß stundenlang, manchmal bis nach Mitternacht, an dieser eigentlich „freiwilligen“ Aufgabe.

Heute weiß ich, dass mit derartigen pädagogischen Maßnahmen ein „Belohnungsmuster“ aktiviert wird, das irgendwann auch ohne Schokolade, also ohne Belohnung, funktioniert.

Während meiner Schulzeit bin ich natürlich auch ein paar Mal aus der Klasse geflogen, meistens verdient, einmal aber auch definitiv unverdient: Es war ein Vokabeltest oder Diktat in der 7. oder 8. Klasse. Ich sitze in der vorletzten, also der 6. Reihe und drücke sehr fest auf den Kugelschreiber, um der Aufgabe zu folgen. Dabei versagt allerdings das Schraubgewinde zwischen den beiden Teilen des Kugelschreiber, und, ausgelöst durch den Federmechanismus, macht sich der obere Teil des Kugelschreibers auf den Weg: Ich sehe ihn heute noch wie in Zeitlupe rotations- bzw. drallstabilisiert fliegen, durch die 5. Reihe, die 4. Reihe, die 3. Reihe, übrigens dann auf maximaler Höhe, dann fallend durch die 2. Reihe, die 1. … und schließlich Richtung Lehrerpult, wo dummerweise genau in der Flugbahn sich die Stirn des Lehrers befindet. Ich habe bis dahin und definitiv seitdem auch nicht mehr so einen roten Kopf gesehen! Und es dröhnt mir immer noch in den Ohren: „RAUS“. Draußen vor der Tür habe ich mich dann gefragt: Wie hat der Lehrer denn eigentlich aus der Flugkurve berechnen können, dass der halbe Kugelschreiber von mir kam??? Jetzt wissen Sie endgültig, meine Damen und Herren, warum ich Luft- und Raumfahrtingenieur geworden bin.

Es gäbe nun noch so viel zu erzählen, viele Anekdoten und Geschichten, beispielsweise, warum ich zum Nachsitzen mit dem Spülen von Reagenzgläsern verdonnert wurde und damit mein Interesse zu Chemie geweckt wurde oder über die trotz Aufsicht durchgemachten Nächte in Schullandheimen, über den alljährlich wiederkehrenden Abi-Stress bei Lehrern und Schülern, wo es die vierblättrigen Kleeblätter auf dem Schulgelände gab, u.v.a.m.

Aus Zeitgründen vielleicht nur noch eine Episode aus der 10. Klasse, die mir zeigte, dass man eine Aufgabe oder einen Gegner nie unterschätzen darf. Vorweg: Mein Schulleiter, Herr Richter möge mir diese Anekdote verzeihen.

In dieser Zeit war für viele von uns die Schulsportwoche gegen Ende des Schuljahrs ein absolutes Highlight und die jeweils besten Klassen durften gegen die Lehrer antreten. Wie der Zufall es wollte, waren dann in meiner Klasse sehr viele, sehr aktive und talentierte Handballspieler, ja wir waren auch alle im Verein sehr aktiv und erfolgreich. Wir durften dann also im Handball gegen die Lehrer antreten, die bis dahin anscheinend noch nie ein Spiel gegen eine Mittelstufenklasse verloren hatten, ja nach dem Hörensagen eigentlich kaum einen Ball aufs Tor bekommen hatten. Eine Szene aus diesem Spiel habe ich noch vor Augen, als sei sie erst gestern passiert. Einen Mitschüler, der vom Zehnkampf kam, hatten wir überzeugt zum Handball zu wechseln. Er setzt so 2-3 Minuten nach Spielbeginn zum Sprungwurf an und schleudert den Ball wie beim Speerwurf mit mindestens 200 Sachen gegen das Lehrertor. In meiner Erinnerung klatscht der Ball demnach praktisch zeitgleich gegen die Querlatte, es macht einen Riesenknall, das Tor vibriert vehement und der Ball fliegt wie in Zeitlupe zurück bis fast zu unserem eigenen Torwart. In dieser „Flugzeit“ sehe ich unseren Schulleiter wie im Zeitraffer aus dem Tor in Richtung Bank rennen, und höre ihn sagen: „…ähm, ich muss jetzt zum Schachturnier, kann ein anderer übernehmen?“… Das Handballspiel ging übrigens nach hartem Kampf 8:7 oder 7:6 n.V. für uns aus, das Schachturnier 48:2 oder so für den Schulleiter.

Meine Damen und Herren, 175 Jahre GDG! Man kann nur erahnen, wie viele ähnliche Geschichten wohl tausende von Schülerinnen und Schüler und hunderte von Lehrerinnen und Lehrer erzählen könnten.

Was wünscht man nun einer Schule, die 175 Jahre jung ist? Ich wünsche dem GDG, ja meinem GDG, dass es auch zukünftig, ähnlich wie für mich, für viele viele weitere Schülergenerationen einen Ort bildet, wo sie nicht nur Wissen mitnehmen, sondern auch positive und prägende Impulse, Eindrücke, Einstellungen und Anregungen für ihr gesamtes Leben erhalten. Ich wünsche meinem GDG weiterhin so viele motivierte und motivierende Lehrerinnen und Lehrer, die es verstehen, das Belohnungsmuster zu aktivieren und ein Klima und eine Atmosphäre zu schaffen, wie ich sie erleben durfte.

Meine Damen und Herren, zum Abschluss möchte ich noch Danke sagen. Danke an Frau König, für die Möglichkeit heute zu ihnen zu sprechen.

Danke an meine Mitschülerinnen und Mitschüler für das Miteinander und die Freundschaft, die teilweise bis heute anhält und vielen Dank an meine Lehrerinnen und Lehrer, dass sie auch mich bis zum Abitur durchgebracht haben!

Ihnen meine Damen und Herren, danke ich für die Aufmerksamkeit!

Festrede von Denis Scheck

Denis Scheck beim Festakt

Liebe Schülerinnen und Schüler, meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Keinen Frieden mit dem GDG!“

Sie haben, nach dem Ablaufplan dieser Feierlichkeit zu urteilen, schon ein gewiß sehr gut gemeintes, ebenso gewiß aber auch ein sehr schwer erträgliches Rahmenprogramm von Rabimmel-Rabummel-Rabamm-Reden von bestechender Einfalt und verblüffendem Scharfsinn hinter sich gebracht und sehen einer weiteren solchen Rede sicher mit kaum gebändigter Erwartungsfreude entgegen. Allerdings muß ich diese Erwartung enttäuschen, als ich mit einer reinen Eloge heute nicht dienen möchte, was insofern trösten mag, als Elogen vornehmlich auf Tote gehalten werden, das Gottlieb-Daimler-Gymnasium aber auch im 175 Jahr seines Bestehens noch lebt und dem Vernehmen nach ganz munter vor sich hinröchelt.

Ich habe mir während der Vorbereitung auf diese Rede wie immer einige Stichworte auf einem Zettel notiert, und ganz oben und dick unterstrichen steht als allererstes eben: „Keinen Frieden mit dem GDG!“ Der Mensch wird mit zunehmendem Alter sentimental, versinkt in „Feuerzangenbowle“-Nostalgie, macht es sich in seinen Lebenslügen bequem, wird zum Ochsenfrosch der eigenen Bedeutsamkeit, säuft sich mit allerlei Eia-Popeia- und Halleluja-Gequatsche die Niederlagen und Tiefpunkte seines Daseins schön, entschuldigt sich am Ende noch bei seinen unterbezahlten Lehrern und zeigt auch sonst häufig Anzeichen fortschreitender Hirnerweichung. Die Schärfe des einstmals erlittenen Schmerzes läßt nach genauso wie das Brennen der Beleidigung, die Hitze der Wut und die Lähmung der Ohnmacht. Dagegen kann man sich schützen. Der verläßlichste Schutz, den ich kenne, heißt Literatur.

         Ich war Schüler auf dem Gottlieb-Daimler-Gymnasium. Man hat mich auf dieser Schule gegängelt, geschurigelt und gekränkt, belehrt, bevormundet und beleidigt, man hat mich gedemütigt, man hat mich geschubst, man hat mich mit den albernsten und dümmsten Sätzen der politischen Korrektheit traktiert, mir gebetsmühlenartig und unreflektiert die blöden Parolen, unsinnigen Sentenzen und windigen Weisheiten der damaligen pädagogischen Moden um die Ohren gehauen, mich mit politischen Slogans agitiert, so unterkomplex wie „Vier Beine gut, zwei Beine schlecht“ aus George Orwells „Farm der Tiere“, mich mit apodiktischen Feststellungen vom schlagenden Wahrheitsgehalt von Aussagen wie „Die Erde ist eine Scheibe“. „Es gibt kein Alesia“ oder „Da könnte ja jeder kommen“ abgespeist, man hat mich zu- und abgerichtet, mich dressiert, eingeseift und aufs Kreuz gelegt, narkotisiert, eingelullt und für dumm verkauft. O ja, ich war Schüler auf dem Gottlieb-Daimler-Gymnasium Und es verging nicht ein einziger der etwa tausend Tage, die ich Schüler des GDG war, ohne daß ich mich gefragt hätte: Wie zum Teufel bin ich eigentlich ausgerechnet auf dieser Schule gelandet?

         Wie in vielen guten Geschichten stand am Anfang ein Verrat. Der Klassenlehrer meiner alten Schule, deren Ort, Winnenden, seither einen zumindest in Schuldingen unheilvollen Klang angenommen hat, dieser Klassenlehrer hatte mir vor den Sommerferien versprochen, mich zu verständigen, falls meine Klasse aufgelöst und wir Schüler auf die drei anderen Klassen verteilt werden sollten. Dieses Schicksal der Auflösung einer Lateinklasse kam damals recht oft vor, irgendwann waren von den ursprünglichen Schülern einfach zu viele sitzen geblieben oder weggezogen, um noch eine eigene Klasse zu rechtfertigen, nur wollten wir Lateinschüler unser Schicksal selbst in die Hand nehmen und uns nicht willkürlich auf die anderen Klassen verteilen lassen. Aus irgendeinem Grund blieb der versprochene Anruf dieses Lehrers aus, und als ich am ersten Schultag von der Zerschlagung meiner Klasse erfuhr, war ich darüber so erzürnt und verdrossen, daß ich schnurstracks aufs Sekretariat ging und mich ohne viel Federlesens, aber unter Ausstoßung sämtlicher mir damals zur Verfügung stehender Verwünschungen, von dieser Schule, die ich nicht mehr die meine nennen wollte, abmeldete.

         Allerdings hatte ich da die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Mir war nicht klar, daß in meinem Jahrgang 1964 die Pille noch nicht ihr segensreiches Werk begonnen und dieser Jahrgang folglich der geburtenstärkste der deutschen Nachkriegsgeschichte ist. Als ich nachmittags wieder zu Hause war und im Stuttgarter Telefonbuch die Gymnasien abtelefonierte, wurde mir aber kräftig Bescheid gestoßen und ein Licht aufgesetzt. Das Boot sei voll, erfuhr ich ein ums andere Mal, ein weiterer Schüler deshalb so erwünscht wie ein Kropf am Hals, und im übrigen guten Tag und guten Weg.

         Ich gebe zu, in diesem Moment meines damals 15jährigen Lebens, überfiel mich nackte Panik. Bildungspanik. Hatte ich doch eigentlich seit meinem fünften oder sechsten Lebensjahr meinen Berufs- und Ausbildungsweg, meine Schullaufbahn und Universitätskarriere ziemlich deutlich vor Augen stehen gehabt: Abitur, Studium, Promotion, Habilitation, und das bittschön zackzack. Mein uneingestandenes Vorbild dabei war das Entenhausener Universalgenie Professor Dr. Primus von Quack, Träger von 166 Doktorhüten und Besitzer 92 Staatsexamen, den wir dem genialen Zeichner Carl Barks zu verdanken haben. Im Grunde braucht man sich nur zwei Namen zu merken: für das 19. Jahrhundert Karl Marx, für das 20. Carl Barks, den Schöpfer von Scrooge McDuck, Gyro Gearloose oder eben Ludwig von Drake, oder wie Dr. Erika Fuchs, die Barks-Übersetzerin, sie auf Deutsch nannte, Onkel Dagobert, Daniel Düsentrieb und Primus von Quack. Einen Professor- und Doktortitel, so meine Überzeugung, würde ich mir schon erarbeiten, ein klitzeklein wenig wurmte mich nur, daß man in der Bundesrepublik nicht mehr in den Adel aufsteigen konnte, aber vielleicht ließ sich da ja durch Adoption oder – ein wirklich entsetzlicher Gedanke damals – durch Heirat etwas machen. Dieser süße Traum von akademischem Ruhm und weltlichem Reichtum drohte nun zu platzen. Ich war fünfzehnhalb Jahre alt, besaß die Mittlere Reife und fand keine Schule, die auch nur einen Blick auf meine Zeugnisse werfen wollte. Ich stand buchstäblich auf der Straße, und ganz allmählich nahm ein häßliches Wort Gestalt in meinen Gedanken an: das Wort Schulabbrecher.

         In Dagobert Ducks Geldspeicher befindet sich neben dem Hauptbüro ein kleiner Raum, das sogenannte Sorgenzimmer, in das sich Dagobert gelegentlich zurückzieht, um im Kreis zu gehen, sich Sorgen zu machen und dabei unentwegt zu jammern, etwa wenn die Panzerknacker mal wieder aus dem Gefängnis entlassen werden, der Entenhausener Verein zum Schutz ohrloser Ohreulen um eine Spende bittet oder sonst ein Unheil dräut, das dem Fantastillardär Dagobert den kummervollen Satz entringt: „Wenn das so weitergeht, bin ich in drei Millionen Jahren pleite.“ Die zeichnerische Pointe des Sorgenzimmers ist, daß der Kreis, in dem Dagobert geht oder, falls er keine Zeit hat, seinen nichtsnutzigen Neffen Donald für zehn Kreuzer die Stunde gehen und jammern läßt, daß dieser Kreis vom vielen jammernden Herumlatschen sehr tief ausgefurcht ist.

 Nachdem ich fünfzehn Schulen abtelefoniert und nichts als hohntriefende Absagen kassiert hatte, war auch ich im Sorgenzimmer meiner Psyche angelangt und arbeitete an der Vertiefung meines Jammerkreises. Ich weiß nicht, woran es an jenem Nachmittag vor über 30 Jahren lag. Hörte man mir im Sekretariat des Gottlieb-Daimler-Gymnasiums meine wachsende Verzweiflung an? Ließ man sich durch meinen Geburtsort Bad Camstatt beeindrucken? Oder hörte man auf meinen Winnender Klassenlehrer, diese treulose Tomate, der mal am GDG unterrichtet hatte und ein gutes Wort für seinen Klassensprecher einlegte?

Jedenfalls bekam ich tags darauf einen Termin beim damaligen Schulleiter, also einem der Vorgänger von Frau König, einem Herrn mit dem in meinen Ohren alttestamentarisch klingenden Namen Richter. Als ich ihm in seinem Direktorenzimmer meine Zeugnisse vorlegte, weihte mich Doktor Richter in die Maximen seiner pädagogischen Arbeit ein: „Mathematik und Sport: das sind die Schlüsselfächer für die Managergeneration von morgen!“

Mit dem Überlebensinstinkt der Machtlosen beeilte ich mich, die tiefe Weisheit und evidente Richtigkeit seiner erzieherischen Grundsätze zu beteuern und welch besonderes Vergnügen es mir bereiten würde, meine bislang leider dürftigen Leistungen auf diesen Gebieten an seiner Schule aufzupolieren. Kein Wort hingegen ließ ich darüber verlauten, daß ich keineswegs vorhatte, mein schönes Leben mit Lattenhüpfern, Balltretern und Rechenschieberluden zu vertändeln, um mich dann in die öden Reihen der Managementdeppen von morgen einzureihen. Habe ich irgendwen vergessen zu beleidigen?

Meine Zeit am GDG begann also mit einer faustdicken Lüge. Man könnte sogar sagen, ich habe auf dieser Schule das Lügen gelernt. Weiße Lügen, fromme Lügen, Notlügen, gewiß: ich kenne sie alle. Heute weiß ich: die gefährlichsten Lügen sind die, die man so oft wiederholt hat, daß man schon selber an sie glaubt.

„Der Mensch wird erst frei sein, wenn der letzte König an den Gedärmen des letzten Priesters aufgeknöpft wird.“ Manchmal, allerdings nicht oft, macht es die Literatur einem sehr leicht. So leicht, wie es einem dieser Satz von Denis Diderot macht, dem Streiter wider allen Dogmatismus, der in diesem Jahr 300 Jahre alt wird, also fast doppelt so alt wie das GDG, das 1838 als Latein- und Realschule gegründet und erst 1954 in das „Gottlieb-Daimler-Gymnasium“ umbenannt wurde. Leicht macht es einem Denis Diderot, weil von seinem Satz, diesem wahrhaft aufklärerischen Gedanken, auch heute noch eine solche Strahlkraft ausgeht, gleichermaßen revolutionärer Elan wie rauschhafte Begeisterung, wider den Stachel zu löcken, das allgemein Akzeptierte in Frage zu stellen.

Ich habe diesen schönen Satz unter der Schulbank am GDG gelesen, in irgendeiner der zahllosen öden Schulstunden, wo Menschen mit der ansteckenden Motivation des Sicherheitspersonals an osteuropäischen Flughäfen Inhalte lehrten, die ihnen selbst nichts bedeuteten. Diese Öde, man könnte auch sagen: diese Muße ist für meinen Bildungsbegriff enorm wichtig: ich glaube an die Langeweile als die Mutter alles Guten, Schönen, Wahres. Nichts schlimmer, als ein den ganzen Tag über betreuter, bespielter und bespaßter junger Mensch. Ovid lehrt in den Metarmophosen, daß Verwandlung erst eintritt, wenn der Leidensdruck unerträglich wird. Und dazu bedarf es für junge Menschen unerträglicher Langeweile. Davon gab es am Gottlieb Daimler Gymnasium reichlich.

 Das GDG war wie alle Schulen auch eine Kinderverwahranstalt, Eltern schickte ihre Kinder dort hin, damit sie „von der Straße weg“ waren, „von dr Schdroß wäg“, wie das so schön auf Schwäbisch heißt, eine Formulierung, in der noch ein Abglanz jener Seligkeit längst vergangener Zeiten liegt, als die Straße einmal ein Ort war, wo Kinder spielten und nicht totgefahren wurden. Womit ich schon bei der Fragwürdigkeit bin, eine Schule nach Gottlieb Daimler zu benennen. Wer heute von der Grabkapelle der württembergischen Könige ins Neckartal schaut, erblickt ein modernes Land Mordor, ein Land, wo der dunkle Lord auf dunklem Thron herrscht und statt seines niemals schlafenden Auges einen Stern als Zeichen seiner Herrschaft errichtet hat.Warum nicht gleich Sauron-Gymnasium?

Dem Ablauf unserer Feierstunde entnehme ich, daß zu Beginn die Unterzeichnung einer Partnerschaft mit „Genius – der jungen WissensCommunity von Daimler“ stand. Das Wort „WissensCommunity“, ein häßliches Wort für eine vermutlich häßliche Sache, ist ohne Bindestrich oder Leerzeichen geschrieben, wie ein erigierter Phallus ragt das Versalien-C von Coummunity mitten in dem Neologismus empor. Der mir sehr liebe amerikanische Autor William Gaddis beschreibt in seinem Meisterwerk„ JR“, einer Kapitalismussatire über einen 13jährigen, der sich am Telefon ein Millionenunternehmen zusammenspekuliert - übrigens trägt der Fiesling aus der TV-Serie „Dallas“ seinen Namen „JR“ nach der Figur von William Gaddis -, also, dieser William Gaddis beschreibt in „JR“ unter anderem eine Schule, in der Coca-Cola Fernseher in den Klassenräumen anbringt, auf denen immer wieder von Coca-Cola-Werbung unterbrochene Unterrichtsfilme laufen. Was Anfang der 70er Jahre noch Satire war, beschreibt unsere heutige Wirklichkeit wie ich fürchte nur unzulänglich. In dem Moment, wo deutsche Gymnasien Partnerschaften mit „WissensCommunities“ ohne Leerzeichen eingehen, ist Lummerland abgebrannt und der regierende Kaiser nackt. Solche Zeiten sind gute Zeiten für Literatur.

Muß ich erwähnen, daß ich keinen Daimler fahre und dies mein Lebenlang auch nicht vorhabe zu ändern, allein deshalb schon, weil mir aus meiner Schulzeit noch der von einer Lehrerein geäußerte Satz „Wenn ihr dann mal beim Daimler seid …“ unheilvoll im Ohr klingt? „Wenn ihr dann mal beim Daimler seid“ – das klang für mich so attraktiv wie einem Schwein die Rede vom Schinken, ich faßte es eher als eine Verwünschung oder die unkenhafte Prophezeiung des Schicksals eines Grubenponies auf. Ich bin doch kein Ork, was will ich beim Daimler?

Wie befreit man sich von solchen ausgelatschten Lebenswegen? Das wirksamste Rettungsinstrument aus dem Gefängnis vorgezimmerter Erwartungen ist in meinen Augen die Literatur, der größte Wissens- und Erfahrungsspeicher, den wir besitzen. Dort findet man unter Umständen auch schöne Pointen. Etwa in dem 1910 erstmals erschienenen Roman „Das Aeromobil“ von Fritz Holten, einem Pseudonym des 1853 in Bozen geborenen Unterhaltungsautors Johannes Kaltenboeck, der am 25. Oktober 1927 hier in Stuttgart starb. Auf der allersten Seite seines seinerzeit vielgelesenen High-Tech-Thriller „Das Aeromobil“ läßt Kaltenboeck zwei Japaner ein neues Auto bestaunen und gleichzeitig das Hohelied des Elektroantriebs singen – ich zitiere:

„Wo haben Sie dieses Wunderding ergattert?“

 „In Stuttgart-Canstatt, wo zwei der neuesten Modelle zur Wahl standen. Das eine mit eingebautem Sprengstoffmotor und Dynamo, das andere mit Akkumulatorenbetrieb.“

„Sie haben sich für letzteren entschieden?“

Der andere nickte und entgegnete: „Jawohl habe ich das! Und warum? Die Akkumulatoren wirken zugleich als Primärelemente, im Notfall auch ohne Ladung. Das System kommt zwar erheblich teurer, ist dafür aber in jeder Hinsicht betriebssicher.“

Sie sehen: die Zukunft ist nicht nur unsere Vergangenheit, unsere Vergangenheit ist auch unsere Zukunft. Wer das nicht weiß, weiß nichts. Zwei Jahre vor Kaltenboecks „Aeromobil“ bat der österreichische Publizist Arthur Brehmer einige Koryphäen seiner Zeit, sich Gedanken über die Zukunft zu machen und versammelte das Ergebnis ihres Nachdenkens in dem schönen Band „Die Welt in hundert Jahren“, der vor einiger Zeit neu aufgelegt wurde und ein breites Echo fand. Ein Herr namens Jehan  van der Straaten schrieb darin über „Unterricht und Erziehung in 100 Jahren“ und stellte seiner eigenen Zeit eine recht finstere Diagnose: „Jedes Kind kommt, von krankhafter Degeneration abgesehen, als Genie auf die Welt. Es gilt nicht einmal, den Genius zu erwecken; er ist wach; er strebt mit allen Kräften danach, sich zu offenbaren und wird – getötet. Das Kind wird zum Menschen (!) erzogen. Zum Alltagsmenschen ohne Schwung, ohne Energie, ohne eigene Initiative. Schon unsere Erziehung im Hause legt das Fundament dazu, und die Schule gibt dem Genie dann den Gnadenstoß …Nehmen wir, um den Vorgang zu illustrieren, Zuflucht zu einem Bilde aus unserer genialsten, modernsten Wissenschaft. Drahtlose Telegraphie. Vom Transmitter geht, von den Herzschen Wellen getragen, eine Botschaft aus und sucht den auf ihn, auf seine Schwingungen gestimmten Receiver. Findet sie ihn, so wird die Botschaft gehört … Nehmen wir aber an, der Receiver arbeitet nicht; die Botschaft umkreist, umflutet, umzittert und umschwingt die ganze Welt; nirgends aber wird sie sie gehört, nirgends erfaßt … Endlich erlahmt die Lust, die Kraft, das Mühen und Suchen. Resigniert wird der Apparat abgebrochen, oder er verrostet und versagt.“

Und wo bleibt nun das Positive? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: ich erzähle schon die ganze Zeit vom Positiven. Kein Zweifel: ich war mit meinen Neigungen, mit meinen Interessen, Passionen und Lieben an dieser Schule falsch. Und das ist der springende Punkt. Unsere Zivilität beweist sich an unserem Umgang mit den Menschen, die falsch sind, mit den Unpassenden, den Querstehern, den, wie es im Russischen so schön heißt, „überflüssigen Menschen“. Bei einer Weltbevölkerung von momentan sieben Milliarden Menschen sind die meisten von uns dazu verdammt, falsch und überflüssig zu sein: in der Gesellschaft, im Beruf, erst recht in der Liebe. Auch wenn ich keinen Frieden mit dieser Schule machen kann, bin ich sehr dankbar dafür, daß sie mir im entscheidenden Moment Pardon gewährt hat. Zum Beispiel meine Fehlstunden in meinem Englisch-Leistungskurs nicht allzu genau nachzählte. Mich unter der Bank lesen, ja mehr noch: fünfe gerade sein und mich davon und nicht unter die Räder, also zu Daimler kommen ließ. Ad multos annos!

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